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„Drei Fragen an“ Ludwig Theuvsen zur Agrarpolitik der neuen Bundesregierung
9. September 2025
Als ehemaliger Hochschullehrer und Staatssekretär im niedersächsischen Landwirtschaftsministerium bringt Ludwig Theuvsen umfassende agrarwissenschaftliche und politische Expertise mit. Diese lässt er auch in die Arbeit des Kompetenzzentrum Landwirtschaft der REWE Group einfließen. Nach den ersten Monaten der neuen Bundesregierung haben wir ihn um eine fachliche Einschätzung zum agrarpolitischen Kurs der Koalition gebeten.
Wie bewerten Sie den Start der Koalition aus CDU/CSU und SPD im Hinblick auf die Agrarpolitik? Gibt es Punkte, die Sie besonders hervorheben würden?
Zu Beginn seiner Amtszeit hat Bundeslandwirtschaftsminister Rainer den im Wahlkampf durch die Unionsparteien angekündigten Kurswechsel eingeleitet: mehr Fokus auf Ernährungssicherung und heimische Nahrungsmittelproduktion sowie Stärkung der Landwirtschaft. Ausdruck dieses Kurswechsels sind unter anderem die Wiedereinführung der Agrardieselregelung, die Abschaffung der Stoffstrombilanz als Beitrag zur Entbürokratisierung sowie die Verlängerung der Übergangsfrist beim Tierhaltungskennzeichnungsgesetz. Auch die in Teilen bereits erfolgte Anerkennung des günstigen Erhaltungszustands des Wolfs ist ein wichtiges Signal in Richtung Weidetierhalterinnen und -halter sowie Menschen im ländlichen Raum.
In einem so komplexen Politikfeld wie der Agrarpolitik gibt es natürlich auch einzelne gegenläufige Entwicklungen, beispielsweise die absehbare deutliche Erhöhung des Mindestlohns, die der SPD sehr am Herzen liegt. Der weitere Anstieg der Mindestlöhne wird vor allem den heimischen Obst-, Wein- und Gemüsebau unter erheblichen Anpassungsdruck setzen.
Angesichts des zuletzt hohen Frusts in der Landwirtschaft, der sich in den Bauernprotesten Anfang 2024 manifestierte, sehen Sie in der neuen Bundesregierung eine Chance für eine deutliche Verbesserung des Verhältnisses der Branche zur Politik?
Die schlechte Stimmung in der Branche hat verschiedene Ursachen, von der mangelnden Wertschätzung der Landwirtschaft in Teilen der Bevölkerung und der Medien über den wirtschaftlichen Druck, unter dem die Betriebe stehen, bis zum Übermaß an Bürokratie, mit dem die Politik die Landwirtschaft drangsaliert. Bauernproteste haben daher im Winter 2023/24 nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen EU-Mitgliedstaaten stattgefunden. Der durch Bundeslandwirtschaftsminister Rainer eingeleitete Kurswechsel ist das Signal an die Landwirtschaft, dass die Politik wieder an ihrer Seite steht.
Die bisher umgesetzten Maßnahmen reichen natürlich für einen vollständigen Stimmungsumschwung bei weitem noch nicht aus. Eine durchgreifende, auf den Betrieben spürbar werdende Befreiung von bürokratischen Lasten sowie der Abbau von Investitionshemmnissen, namentlich im Bau- und Immissionsschutzrecht, werden von zentraler Bedeutung sein, damit Landwirtinnen und Landwirte wieder optimistischer nach vorne blicken und in ihre Betriebe investieren.
In Brüssel muss natürlich derselbe Weg eingeschlagen werden. Auch seitens der EU braucht es dringend ein Belastungsmoratorium und Beiträge zur Entbürokratisierung. Last but not least muss auch die Wirtschaft selbst einen Beitrag zum Stimmungsumschwung leisten, denn viele bürokratische Anforderungen haben sich nicht Politikerinnen und Politiker in Brüssel und Berlin, sondern die Wertschöpfungspartner unserer Landwirtschaft ausgedacht.
Eine aktuelle Presseinformation der Landwirtschaftlichen Rentenbank gibt Anlass zur Hoffnung: Danach stieg im ersten Halbjahr 2025 das Neugeschäft bei Förderkrediten um 77 Prozent gegenüber dem Vorjahr an. Die Stimmung in der Landwirtschaft scheint sich aufzuhellen – das ist ein gutes Zeichen.
Das staatliche Tierhaltungskennzeichen bleibt ein zentrales Thema für Tierhalter:innen, Verarbeiter und den Lebensmitteleinzelhandel. Die Bundesregierung hat die Übergangsfrist für die Kennzeichnung von frischem Schweinefleisch nun bis zum 1. März 2026 verlängert. Für einen echten Mehrwert in puncto Tierwohl und Verbraucherinformation ist jedoch aus Sicht des Lebensmitteinzelhandels eine Ausweitung auf weitere Tierarten und Vertriebswege notwendig. Wie schätzen Sie die Chancen für die im Koalitionsvertrag angekündigte Reform der staatlichen Kennzeichnung ein?
Das Tierhaltungskennzeichnungsgesetz stand massiv in der Kritik, unter anderem weil es nicht ausreichend mit bestehenden privatwirtschaftlichen Initiativen verzahnt war und erhebliche Vollzugsdefizite drohten. Von daher war die Verlängerung der Übergangsfrist alternativlos. Die Koalitionspartner haben vereinbart, das Gesetz unter Einbeziehung aller Beteiligten entlang der Wertschöpfungskette grundlegend zu reformieren. Bundeslandwirtschaftsminister Rainer hat praxistauglichere und bürokratieärmere Regelungen angekündigt.
Außerdem hat sich der Berichterstatter der Union für den Agrarhaushalt im Zuge der diesjährigen Haushaltsberatungen dafür ausgesprochen, mehr Borchert zu wagen. Das Konzept der Borchert-Kommission sieht die Einbeziehung aller Tierarten und Vertriebswege vor.
Ich bin daher vorsichtig optimistisch, dass die Reform des Tierhaltungskennzeichnungsgesetzes auch dank der breiten Beteiligung der Praxis in die richtige Richtung gehen wird. Es kann jedoch in keinem Fall schaden, wenn Vertreter aller Wertschöpfungsstufen – von der Landwirtschaft bis zum Einzelhandel – in dieser Frage den engen Austausch mit der Politik suchen.
Ludwig Theuvsen, ehemaliger Hochschullehrer und Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium Niedersachen a.D.